„Wir leben in Fiktionen“

Das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. hat kürzlich ein überaus aufschlussreiches Twitter-Gespräch mit dem Medienphilosoph Professor Norbert Bolz über Informationsblasen und die Freiheit der Meinung und Wissenschaft geführt.
Er thematisiert das Ende des freien Meinungsaustausches und das Realwerden der orwellschen Utopie vom Neusprech. Aber lest selbst:

Herr Professor, ist die Meinungsfreiheit hierzulande gefährdet?

Ich finde schon. Abweichende Meinungen werden moralisch sanktioniert. Wer nicht mit dem Mainstream schwimmt oder treibt, dessen eigene moralische Integrität wird infrage gestellt, auch wenn das Thema mit Moral nichts zu tun hat. Viele Themen werden nur noch so behandelt.

Können Sie da welche nennen?

Man denke nur an das Flüchtlingsthema. Oder Europa. Oder Trump. Man kann da eigentlich nur noch eine Meinung äußern. Die Möglichkeiten, andere Meinungen zu artikulieren, sind sehr begrenzt. Dasselbe bei der Energiewende. Je größer das politische Thema ist, umso schwieriger ist es, eine abweichende Meinung zu formulieren.

Leben die Menschen nur noch in ihren Informationsblasen? In den USA will nachweislich ein Drittel der Bevölkerung von anderen Meinungen oder Medien, die andere Meinungen vertreten, nichts mehr wissen.

Das ist so. Eine Blase ist der Mainstream, eine andere sind die Paranoiker, also die Blase der Verschwörungstheorien. Ein freier Meinungsaustausch findet jedenfalls nicht mehr statt.

ARD und ZDF haben zur Klärung der Begriffe in den Redaktionen eine Handreichung, genannt Framing, in Auftrag gegeben. Das hat Diskussionen ausgelöst. Ist das Framing der öffentlich-rechtlichen Medien auch eine Blase?

Im Grunde ja. Mit dieser Form der Sprachregelung wird die orwellsche Utopie vom Neusprech Wirklichkeit. Das ist die Produktion von Bewusstsein durch Sprachpolitik und gehört in das große Thema der politischen correctness. Man will das Denken prägen im Sinn des von den öffentlich-rechtlichen Medien propagierten Mainstreams.

Ist das nicht durchschaubar?

Natürlich, weil es zu offenkundig daherkommt. Aber gerade das führt auf Dauer zu der kognitiven Dissonanz, die Lionel Festinger für die großen Themen unserer Zeit prognostiziert hat. Denn dieses Framing ist ja auch ein Framing von Wertvorstellungen. Negativ definierte Werte darf man nicht teilen oder man stellt sich außerhalb des vorgegebenen Rahmens. Das ist klassische Manipulation. Und sie ist so plump, daß man sich nicht wundern sollte, dass das Misstrauen gegenüber den Öffentlich-Rechtlichen wächst.

Was macht sie so plump?

Die unheilvolle und sichtbare Nähe zwischen Journalisten und Politik, die offenkundige Überlagerung und Deckungsgleichheit zwischen der politischen correctness und der Informationspolitik der politischen Klasse.

Trotzdem schauen viele noch die Tagesschau oder das Heute-Journal.

Ja, aber es sind zu viele Skandale passiert, die das Vertrauen zerstört haben. Nicht nur im Fernsehen. Der vorläufige Höhepunkt war der Skandal namens Relotius. Es gibt ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Journalisten, man glaubt ihnen nicht mehr.

Gibt es überhaupt Alternativen? Das Netz eröffnet Wege in die große Freiheit, heißt es. Immerhin ermöglicht es Parallel-Öffentlichkeiten, um Zensur zu umgehen. Ist das so?

Grosso modo ja. Ich persönlich könnte mir kein Bild mehr von der Welt machen, wenn die Informationen der Öffentlich-Rechtlichen nicht immer wieder durch das Netz relativiert würden. Das Netz ist für mich die wichtigste Informationsquelle. Durch geschicktes Navigieren kann man sich befreien und aus der Knechtschaft der klassischen Massenmedien ausbrechen. Viele meiner Studenten informieren sich nur noch im Netz.

Was heißt geschicktes Navigieren? Können Sie da einen Tipp geben?

Ich bin ein großer Fan von Twitter. Zwar folge ich nur wenigen, aber intelligenten Leuten, deren Urteil und Analysen ich sehr schätze. Sie sind für mich vertrauenswürdig. Und sie weisen mit Links auf Artikel und Publikationen hin, die ich sonst nie lesen würde. Man verlässt sich am besten auf seinen gesunden Menschenverstand. Der sagt immer noch, was richtig oder falsch, zuträglich oder abträglich, hässlich oder schön ist.

Wo ist der gesunde Menschenverstand besonders nötig?

Es fehlt heute nicht an Informationen, auch nicht im Netz. Über die unheilige Allianz zwischen Medien und Politik haben wir gesprochen, die gibt es auch im Netz. Sorge bereiten mir dagegen die neoreligiösen Bedürfnisse, sie schalten das Denken aus, zum Beispiel der Greta-Wahn oder das Essen als Religionsersatz. In diesen pseudoreligiösen Bewegungen sehe ich Gefahren für die Gesellschaft.

Die Wahrheit wird Euch frei machen, heißt es bei Paulus. Ist Wahrheit noch ein Begriff, mit dem moderne Gesellschaften und ihre Netzwerke etwas anfangen können?

Nicht nur die Netze, die Moderne selbst kann mit dem Begriff nichts mehr anfangen. Evidenzen werden nicht mehr akzeptiert, Wahrheit ist Privatsache geworden. Die Wahrheit wird ersetzt durch Hypothesen. Das ist letztlich Konstruktivismus. Der liefert aber nur kleine Autonomien.

Gilt die alte Definition nicht mehr, wonach Wahrheit die Enthüllung der Wirklichkeit, die Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen ist?

Wohl dem, der in seinem Glauben fest steht, so dass er klare Kriterien hat für Erkenntnis und Orientierung in der Welt. Aber diese Definition des Thomas von Aquin stammt eben aus dem Mittelalter. Das war buchstäblich eine andere Welt. Der Konstruktivismus ist eine kopernikanische Wende in der Geistesgeschichte. Er hat das Kontingenzbewusstsein ersetzt durch ein Hypothesendenken. Das ist nichts anderes als der Verzicht auf die Wahrheit, was mit Kant begonnen hat, Kant ist schon ein Konstruktivist. Es gibt in unserer Zeit nur wenige Denker, die das erkennen und dem widersprechen. Ratzinger ist einer von ihnen.

Leben wir in Fiktionen?

Ja, genau. Aber die lebensnotwendigen Funktionen reichen offenbar den Menschen. Solange der Betrieb, das System läuft, solange wird nicht hinterfragt.

Und die Wissenschaft, fragt sie nicht nach befreienden, wahrhaftigen Erkenntnissen?

Es gibt keine allgemeingültigen Standards mehr für wissenschaftliche Erkenntnisse. Jede Wissenschaft konstruiert heute ihre eigene Welt. Der Konstruktivismus wird immer radikaler.

Gibt es überhaupt noch einen Konsens in der Gesellschaft außer der Straßenverkehrsordnung?

Nein, jedenfalls nicht im Sinn von positiven Werten. Wir sind uns nur noch einig, was wir nicht wollen. Die negative Wertegemeinschaft reicht uns, wir grenzen nur noch aus. Diese Gesellschaft kann nur noch abwehren. Die Straßenverkehrsordnung ist geradezu ein Paradebeispiel. Ihr Regelwerk besteht aus Verboten, es ist ein negativer Konsens. Wer ihn verlässt, der wird bestraft.

Und die Freiheit als Wert? Die Gewissensfreiheit als Mutter aller Freiheiten?

Auch darüber gibt es keinen Konsens mehr. Gerade die Meinungsfreiheit wird als oberer Wert de facto nicht mehr anerkannt, denn viele Meinungen werden tabuisiert. Siehe oben. Es ist gefährlich, wenn man eine falsche Meinung hat, dann gerät man leicht in den Bann der Oberlehrer der Nation.

Keine allgemein anerkannte Wahrheit, kein positiver Wertekonsens, keine Freiheit – läuft das nicht auf Anarchie hinaus?

Nein, weil die einzelnen Teilsysteme funktionieren. Es gibt auch genügend gebildete Menschen, die diese Systeme am Laufen halten. Zwar werden es weniger und die Zahl der Dumm- und Quatschköpfe steigt, aber das bleibt erträglich, weil wenige Menschen ausreichen, um diese Gesellschaft in vernünftigen Bahnen zu halten. Ich bin da auch optimistisch, vor allem mit Blick in die Wirtschaft und die Technik. Das sind die Bereiche, wo einzelne mit Privatinteressen und Karriereperspektiven – das sind die ausschlaggebenden Fakten – die Welt gestalten und Freiheit weiter ermöglichen.

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