Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - oder?

Zu Lebzeiten meines Opas war sie noch zentraler Bestandteil eines jeden Wochenbeginns - die Stammtischdiskussion. Sonntags um 11.00 Uhr ging es los und zwei Stunden später hatte man einige andere Standpunkte kennengelernt und seine eigenen in Abgrenzung zu den anderen und dem gerade aktuellen Narrativ der Journaille darlegen und vielleicht hinterfragen müssen. Klingt wie die Erinnerung an eine ferne Vergangenheit, ist aber gerade einmal 40 Jahre her. Denn ein solcher Austausch ist mittlerweile natürlich nicht mehr denkbar. Gespräche sind inzwischen Stellungskriege – geprägt von gegenseitigem Sich-nicht-Ertragen, Aggressivität, Vereinfachung, Verbalgewalt und einem totalen Mangel an Respekt, Humor und Selbstironie. 

Nach zwei Jahren Corona, zwei Jahren Zweifel, Unsicherheit, Angst, scheint sowohl die emotionale als auch die kognitive Spannkraft vieler Menschen erlahmt zu sein. Als wären die Welt und das Leben des Einzelnen nicht so schon komplex genug, wurden die Menschen mit Beginn der sogenannten Pandemie ohne Kompass und Messgeräte in einen Sturm hinausgeworfen, von dem zu Beginn keiner wusste, ob und wie er da lebend wieder rauskäme. Das vermeintlich Einfachste in dieser Situation war, sich auf jene zu verlassen, die am lautesten und penetrantesten verkündeten, dass sie nicht nur den Weg raus kennten, sondern den Sturm auch zu stillen vermögen.

Mit viel gutem Willen kann heute man sagen, dass hier von Behörden und Experten Gewissheiten verkauft wurden, bei denen es sich im besten Fall um Annahmen und Vermutungen handelte. Viele sind längst widerlegt. Mit etwas weniger gutem Willen kommt man zum Schluss, dass es schlicht Lügen waren. Ein Gebirge von Lügen – vom Ursprung des Virus über die sogenannten Tests bis hin zu Inzidenzzahlen, „Impfung“, Spitalbettenbelegung und „Virustreiber Ungeimpfte“. Wer sich hier, wie behördlich empfohlen, ausschließlich auf behördliche Informationen verließ, war und ist dadurch zumindest teilweise auch gezwungen, diese Halbwahrheiten und Lügen zu glauben, zu leben und dafür zu werben.

Damit aber wird man selbst Teil der Lügen, und das ist nicht kostenlos zu haben. Der Mensch, der sich dazu bringt, steht unter permanenter emotionaler und geistiger Spannung. Es braucht – ob bewusst oder unbewusst – Disziplin und Kraft, den Elefanten im Raum auszublenden und sich zu zwingen, nur auf jenen Spickel der Wirklichkeit zu starren, der mit „alternativlose Wahrheit“ beschriftet ist. Es ist nichts anderes als Kooperation mit der Unaufrichtigkeit, und die logische Folge ist, dass man selber unaufrichtig wird und auch anderen gegenüber jede Aufrichtigkeit einbüßt. Um dies auszuhalten, sind Möglichkeiten des Spannungsabbaus notwendig – eine Art Blitzableiter, über den sich die Wut über den Schmerz des Ahnens und Nicht-wissen-Wollens entladen kann. Im Fall von Corona waren und sind das die Ungeimpften.

Von Corona sind wir nun übergangslos in den Ukraine-Konflikt hineingestolpert. Und wieder geschieht dasselbe: Es gibt eine einzige alternativlose Wahrheit. Dieser ist alles unterzuordnen oder, sofern nicht machbar, zu opfern. Der Unterschied zu Corona ist, dass dieses Ereignis auf Menschen trifft, die nach zwei Jahren Spannung, Unsicherheit und Angst müde sind. Ausgelaugt. Alles, alles – nur nicht schon wieder in Zweifel, Unsicherheit, Widersprüche und Chaos gestoßen werden. Bitte mal eine eindeutige, klare Sache. Und die wird gerade serviert. Von der Politik ebenso wie von den Medien. Plattformen und Newskanäle, die mit anderen Informationen aufwarten, zu einem differenzierteren Bild beitragen könnten oder widersprechen, werden kurzerhand verboten. Und obwohl alles auf Anhieb viel klarer erscheint als im Fall eines Virus, wo man zwingend auf Fachleute angewiesen ist, findet genau dasselbe wie bei Corona statt: Ein Teil der Wirklichkeit muss nicht nur verdrängt, sondern prüfungsfrei und vollkommen irrational als Lüge, Erfindung und Propaganda verleumdet werden, obwohl sich solche Einfachheit, für die jeder sich zu schade sein sollte, eigentlich verbietet.

Wer heute „Ukraine“ sagt, müsste gleichzeitig auch noch sagen, welche Ukraine er denn meint: jene vor 2014 oder jene seit 2014? Tatsache ist, dass 2014 ein Regimewechsel stattgefunden hat, in den die USA und auch die EU – vorsichtig ausgedrückt – hochgradig involviert waren. Sowohl in dessen Organisation als auch in die Personalauswahl der neuen Regierung. Westliche Spitzenpolitiker haben den Protesten, die im Zuge der Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungs-Abkommens mit der EU durch die Regierung Wiktor Janukowitschs entbrannten, durch ihre Teilnahme nicht nur eine internationale Öffentlichkeit verschafft. Sie haben die riskante Konstruktion der ukrainischen Staatlichkeit, deren Konfliktpotenzial seit der Unabhängigkeitserklärung immer wieder aufgekeimt war, mit voller Absicht zu einer geopolitischen Auseinandersetzung aufgebauscht, indem sie die lokalen Zusammenstöße auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz zu einem Kampf zwischen europäischen Werten und russischer Autokratie hochstilisierten. An Analysen der strukturellen Probleme der ukrainischen Staatlichkeit, der Rolle rechtsradikaler Militanz oder der regional differenzierten Interessenlagen der Bevölkerung bestand zu keinem Zeitpunkt ein Interesse. Das erwünschte Ergebnis – der Sturz Janukowitschs und der Übergang zu einer „prowestlichen Regierung“ mit Demokratiefassade und Nato-Ambitionen – genügte und rechtfertigte das Geschehen. Ein Wechsel des postsowjetischen korrupten Systems war nie vorgesehen gewesen, sondern nur ein Wechsel des Personals: Der Oligarch an der Regierungsspitze war jetzt „unser Oligarch“ und der Korruption bediente man sich.

Wer Ukraine sagt, muss die Tatsache der vor allem im Westen der Ukraine gängigen kultartigen Verehrung des Nazikollaborateurs und Kriegsverbrechers Stepan Bandera, der mitschuldig am Tod Tausender Juden ist, akzeptieren. Und er muss ebenfalls akzeptieren, dass seit dem Putsch dieser Kult zum Machterhalt von jeder Regierung, auch von der aktuellen, nicht nur geduldet, sondern unterstützt wird (zum Beispiel Verleihung von Ehrentiteln an Mitglieder nationalistischer Organisationen). Dass der Wikipedia-Eintrag zu Stepan Bandera im März 2022 dahingehend abgeändert wurde, dass Selenskyj der „Versuch eines Wandels“ in dieser Hinsicht untergejubelt wird, ändert an seinem nachprüfbaren Verhalten nichts. Bis vor ein paar Monaten wurde darüber auch in den westlichen Medien berichtet. Die Ukraine hat ein ernstzunehmendes Nazi-Problem – die Tatsache, dass die Regierung Selenskyj und der Westen das heute unter den Tisch fallen lassen, ändert nichts daran.

Wer Ukraine sagt, muss über den Umgang mit ethnischen Minderheiten (Russen, Polen, Ungarn) im eigenen Land reden, der – vorsichtig ausgedrückt – ungünstig war und ist. Bereits der gängige Kampfbegriff „prorussische Separatisten“ ist vollkommen sinnbefreit, wenn er auf eine russische Bevölkerung angewendet wird. Die Anti-Maidan-Bewegung im Osten, deren Entstehung zum großen Teil der der Förderung nationalistischer Kräfte durch die Regierung, die USA und die EU zu verdanken ist, wurde zum Terror erklärt. Der Versuch, sie bereits kurz nach dem Regierungswechsel mit einem Antiterroreinsatz niederzuschlagen, mündete innerhalb weniger Wochen im Einsatz von Panzern und Bombern gegen die eigene Bevölkerung. Es folgten acht Jahre Krieg, während derer die durch IWF-Kredite gestützte Ukraine allein in den USA Waffen im Wert von 2,5 Milliarden Dollar kaufte. Ein Krieg, der zumindest teilweise auch ein von der Regierung geduldeter Privatkrieg der Oligarchen Kolomojskyj, der dann auch Selenskyj und dessen Kampagne finanzierte, und Taruta, den beiden in Donezk und Dnepropetrovsk eingesetzten Gouverneuren, mit selbstfinanzierten rechtradikalen Bataillonen war. Diese sind heute weitgehend in die regulären Streitkräfte integriert.

Wer Ukraine sagt, muss auch Nato-Osterweiterung sagen. Er muss gebrochene Zusagen des Westens sagen, wie ehemals als geheim eingestufte Dokumente belegen („Spiegel“). „Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen“, schrieb der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog über ein Treffen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands im März 1991.

Wer Ukraine sagt, muss von oder mit dem Department of Defense der USA betriebene Bio-Labore (Sicherheitslevel unbekannt) sagen. Er muss Panama-Leaks sagen und im Ausland gehortete Offshore-Millionen von Selenskyj. Er muss mit Freunden besetzte Regierungsposten und Machtakkumulation sagen. Und so weiter und so fort. Und er muss sich erlauben oder dazu zwingen, alles zu denken. Dass die Ukraine möglicherweise nur der Preis ist, den die USA für die Isolierung der Russen und den Sturz Putins zu zahlen bereit ist. Dass dieser Krieg, obwohl unzweifelhaft durch Putins Einmarsch begonnen, ein in Kauf genommener Krieg ist. Dass es sehr wohl schändlich ist, ein Land in Schutt und Asche zu legen, dass es aber ebenso schändlich ist, ein Land an den Abgrund zu treiben und es dann in Schutt und Asche legen zu lassen. Dass der machiavellistische Grundsatz, dass schuld an Verderben nicht ausschließlich jener ist, der zuerst zu den Waffen greift, sondern ebenso der, der ihn dazu nötigt. Und er muss sich schließlich zwingen zu denken, dass die „Ukrainer“, von denen jetzt hier aus Politikerkreisen mit viel Pathos Tag und Nacht die Rede ist, zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben und es auch jetzt nicht tun, sondern bloß ein weiteres Tool im Werkzeugkasten des Kriegs-Marketings sind.

All das sind nur ein paar Punkte aus unüberschaubar vielen, die gedacht werden müssen, wenn man sich auch nur annähernd ein Bild von der Komplexität dieses geopolitischen Konflikts machen will. Wer all dies verdrängt, weiß in einer Ecke seines Bewusstseins dennoch, dass er bestenfalls mit Halbwahrheiten bedient wird und dadurch auch Teil der Halbwahrheit wird. Er weiß, dass die Ukraine nicht die Wiege von Freiheit und Demokratie, dass Selenskyj nicht der messianische Heilsbringer und Putin nicht der Teufel ist – egal, wie sehr man das Narrativ mit Ferndiagnosen, Experten-Analysen und inflationärem Schlächter-Wortschatz zu stützen versucht. Und wieder braucht es einen Blitzableiter für dieses Wissen und gegen den Schmerz des sich Belügen-Lassens und des Belogen-Werdens: Es dauerte denn auch keine fünf Sekunden, bis die Feindbilder „Putinversteher“ und „FSB-Propaganda-Opfer“ bereitstanden.

Dort, wo dies die Grundlage einer „Diskussion“ ist, gehen Anstand, Aufrichtigkeit, Vertrauen und Mitmenschlichkeit von Anfang an verloren. Weil es nämlich nicht mehr um die Sache geht – egal, wie sehr man sich das einredet –, sondern nur noch um die Behauptung der eigenen Position. Stellungskrieg eben. Solange das so bleibt, sollte jeder vernünftig denkende Mensch sich davon fernhalten. Denn es spielt nur jenen in die Hände, die im Schatten dieses Köpfe-Einschlagens neue Kooperationen, neue Geschäfte, neue Gesetze aufgleisen. Es sind dieselben, denen wir die Situation überhaupt erst verdanken.

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