Das Gift der Deutung – Wie Moralrhetorik den öffentlichen Diskurs vergiftet
Das „Wort zum Sonntag“ vom 21.09.2025 ist mehr als eine fromme Wochenendrubrik. Es ist ein Symptom. Dort, wo über „Hass, Hetze und Lüge“ geklagt wird, wird im selben Atemzug der gerade ermordete Charlie Kirk als „rechtsradikaler Rassist“ etikettiert – nicht begründet, nur behauptet. Der moralische Zeigefinger ersetzt den Beleg; das Verdikt ersetzt die Differenzierung. Und genau darin liegt das Gift: Moralrhetorik, die sich selbst nicht mehr der Wahrheit verpflichtet weiß, sondern der Einordnung.
Die Logik ist bekannt: Zuerst wird die Zielperson mit den stärksten verfügbaren Bannworten markiert – „rassistisch“, „menschenfeindlich“, „extrem rechts“. Dann wird der öffentliche Widerspruch gegen diese Zuweisung als „Hass“ gerahmt. Schließlich werden die wenigen tatsächlich strafbaren Ausfälle aus Millionen Reaktionen herausgegriffen, um die eigene Opfererzählung zu beglaubigen. So entsteht ein Kreislauf der Immunisierung: Wer widerspricht, beweist die These vom Hass. Wer Belege verlangt, wird des Relativierens verdächtigt. Debatte findet nicht mehr statt; sie wird als Gefahr begrifflich entschärft.
Es ist kein Zufall, dass religiöse Sprache diese Operation flankiert: „Diabolos – der Verdreher.“ Der Begriff passt, nur anders, als intendiert. Verdreht wird hier die Reihenfolge: Nicht mehr Tatsachen führen zur Einordnung, sondern die Einordnung produziert die Tatsachen – nachträglich, selektiv, exemplarisch. Genau dieser Mechanismus erklärt, warum nach einem politischen Mord die Auseinandersetzung nicht beim Täter beginnt (Motiv, Radikalisierungsumfeld, geistige Brandstifter), sondern beim Opfer: Man entzieht ihm zuerst das Menschliche, damit die Gesellschaft sich das Entsetzen abgewöhnt. Posthume Entmenschlichung als Seelenhygiene.
Die Choreografie ist professionell: Zuerst der harte Frame („rechtsradikaler Rassist“), dann die Versicherung, man „sage nur, was ist“, schließlich die Empörung über die „Hassflut“. Dazwischen Politikerphrasen („extrem rechts“ ohne Definition), die das mediale Urteil als demokratische Pflicht bekräftigen. Alles fügt sich zu einem moralisch-administrativen Komplex, in dem öffentlich-rechtliche Sender, prominente Moderatoren, parteipolitische Stimmen und nun auch Kanzelrhetorik einen gemeinsamen Gebrauch der Sprache teilen: Sprache als Waffe, nicht als Brücke.
Die Folgen sind konkreter, als die Sonntagsrede zugibt. Wer permanent als „Menschenfeind“ bezeichnet wird, verliert in den Augen des Publikums Menschlichkeit. Aus Mangel an Menschlichkeit folgt Mangel an Mitleid. Aus Mangel an Mitleid folgt Apathie gegenüber Gewalt. Das ist kein Aufruf zur Gewalt – aber es ist deren Normalisierung durch semantische Vorarbeit. Die subtile Botschaft lautet: Es ist schlimm, dass er tot ist – aber er war ja auch… Dieser Halbsatz genügt, um das Fundament der Zivilität anzusägen.
Die zweite Verdrehung betrifft die Freiheit der Kritik. Der Vorwurf lautet neuerdings, es „gehe nicht“, journalistische Einordnungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Doch genau das ist der Kern eines freien Diskurses: Kritik an Behauptungen, Prüfung von Quellen, Forderung nach Belegen, Zurückweisung von Diffamationen. Wer die Überprüfung von Etiketten zur Unsitte erklärt, erklärt Pressekritik zur Ketzerei. Ausgerechnet dort, wo „Hass und Hetze“ beklagt werden, wird die notwendige Skepsis gegenüber Deutungsmacht diskreditiert.
Der dritte blinde Fleck ist pastoral getarnt: „Wahrhaftigkeit und Liebe.“ Wahrhaftig wäre, die eigene Rhetorik an dieselben Maßstäbe zu binden, die man anderen abverlangt – also Belege zu zeigen, Zitate vollständig zu kontextualisieren, die Grenze zwischen Wertung und Faktum offenzulegen. Liebe wäre, den politisch Andersdenkenden nicht hinter Bannworten verschwinden zu lassen, erst recht nicht, wenn er tot ist. Stattdessen wird mit „Solidarität“ operiert – ein Wort, das in dieser Verwendung als Disziplinierungsformel dient: solidarisch ist, wer folgt.
Man muss diese Dynamik nicht religiös deuten, um ihren Ernst zu erkennen. Die Sakralisierung der politischen Sprache – das unkritische Verschmelzen von Kanzel und Kommentar – treibt eine Spaltung voran, die sich nicht mehr als Streit, sondern als Erlösungsdrama inszeniert: Hier die Hoffnung, dort der Hass; hier die Wahrheit, dort die Lüge; hier „Demokratie“, dort „Extremismus“. Wer so spricht, baut keine Öffentlichkeit, sondern eine Gemeinde. Und wer eine Gemeinde betreut, selektiert die Häretiker.
Die Pointe dieser Entwicklung ist bitter: Je lauter das System gegen „Hass, Hetze und Lüge“ predigt, desto weniger vertrauenswürdig wird sein Urteil – nicht, weil Hass nicht existiert, sondern weil das Etikett inflationär gebraucht wird, um Widerspruch zu brandmarken. Damit erreichen die Prediger exakt das, was sie rhetorisch beklagen: Verlust von Vertrauen, Erosion von Gesprächsbereitschaft, Lähmung. Eine gespaltene Öffentlichkeit ist leichter zu lenken – nicht, weil eine finstere Macht im Hintergrund die Fäden zieht, sondern weil die Sprache selbst zur Steuerung geworden ist.
Es gibt einen Ausweg, aber er ist unspektakulär und anstrengend. Er heißt nicht „radikale Hoffnung“, sondern radikale Nüchternheit: keine Bannworte ohne Beleg, keine moralischen Pauschalurteile, keine posthumen Reinigungsrituale. Kritik an Deutungsmacht ist kein Hass. Widerspruch gegen falsche Tatsachenbehauptungen ist keine Hetze. Und Respekt vor Toten beginnt damit, die eigenen Formulierungen an der Wahrheit zu messen – nicht an der erwünschten Wirkung.
Man kann den Zorn beten lehren – aber Paulus sprach nie von einem Erwachen der Massen, sondern von einer Erlösung der Standhaften. In säkularen Worten: Es braucht wenige, die Maß halten, wenn viele sich in moralischer Pose verlieren. Was dem Diskurs fehlt, ist nicht Pathos, sondern Professionalität; nicht Empörung, sondern Begründung; nicht „Haltung“, sondern Handwerk.
Solange die Liturgie der Etiketten fortbesteht, bleibt das Gift im Umlauf. Es heißt nicht „Hass“ – es heißt Deutungshoheit ohne Beweislast. Wer es wirklich neutralisieren will, muss zuerst das Offensichtliche anerkennen: Wahrhaftigkeit ist keine Pose. Sie beginnt damit, nicht zu behaupten, was man nicht belegen kann. Und genau daran wird sich zeigen, wer vom Wort lebt – und wer von der Verdrehung.
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