Realität gegen Ritual – warum die Republik an ihren Beschwichtigungsformeln scheitert

Es gibt in der deutschen Gegenwart kaum einen größeren Gegner für bestimmte Milieus als die Wirklichkeit. Sie stört. Sie widerspricht. Und sie treibt jene, die sich selbst „Zivilgesellschaft“ nennen, regelmäßig auf Plätze, die aussehen wie das Straßenbild des Prenzlauer Bergs – nicht wie das Land. Dort erklärt man sich dann feierlich zum „Stadtbild“, während man in Wahrheit ein Ritual aufführt: die Beschwörung, dass alles schon in Ordnung sei, solange die richtigen Parolen gut klingen.

Auslöser war diesmal eine der zyklischen Merz-Äußerungen. Zahlen seien gefallen, Rückführungen kämen „jetzt“ in großem Umfang, der Innenminister „sei dabei“. Diese Sätze sind politische Placebos: Sie lindern kurzfristig die Nervosität, heilen aber keinen Befund. Denn niemand glaubt mehr, dass die Brandmauer-CDU das durchsetzen könnte, was sie andeutet. Dieselben Sätze, die Linke reflexhaft „Rassismus“ nennen, entwertet Merz im nächsten Atemzug selbst – mit der Versicherung, Hauptgegner bleibe die AfD, Zusammenarbeit ausgeschlossen. Die Botschaft hinter der Pose: Es bleibt beim Sound, nicht bei der Substanz.

Die Zivilgesellschaft als Ritualmaschine

Währenddessen organisiert die „Zivilgesellschaft“ den nächsten Protest. Aufgerufen wird von „Eltern gegen Rechts“ und „Gemeinsam Hand in Hand“ – offiziell unabhängig, faktisch vernetzt mit bekannten Förderstrukturen. Das Spiel kennt man: Steuergeld finanziert die Moral, die dann Steuergeld gegen missliebige Aussagen mobilisiert. So entsteht keine Öffentlichkeit, sondern ein Kreislauf der Selbstbestätigung. Man skandiert gegen „Diskriminierung“ – und liefert auf den Bildern eine nahezu monochrome Menschenmasse. Die soziale Homogenität, die man anderswo beklagt, ist hier ästhetisches Programm.

Der Effekt dieser Choreografie ist vorhersehbar: Ein bisschen Empörung, ein bisschen Betroffenheit, ein paar Punkte weniger für die CDU, ein paar Punkte mehr für die AfD. Nicht weil Parolen überzeugen, sondern weil Realitätsverweigerung abstraft. Wer ankündigt, was er wegen selbstgebauter Koalitionsschranken nicht tun kann, bestätigt den Verdacht, dass Politik zur Rollenaufführung verkommen ist.

Wenn Empirie nur gilt, solange sie passt

Dazu passt die nächste Erzählung: politische Gewalt. Sie soll – so die Liturgie – vor allem von rechts kommen. Die Zahlen zu Angriffen auf Politiker zeichnen regelmäßig ein anderes Bild. Die Reaktionen darauf sind entlarvend: Nicht Entsetzen, sondern ein hörbares „leider“. Das verrät weniger über Statistiken als über Haltungen. Wenn Empirie nur dann zählt, wenn sie dem Milieu nützt, wird sie zur Dekoration. Was bleibt, ist moralische Gewissheit, die jede Korrektur als Affront empfindet.

Parallel läuft die Kulturseite: Ein Fördermix aus NGOs, Seenotrettung und bekannten Lobbygruppen präsentiert einen Film, der die Öffnung als einzig moralische Option inszeniert und jede Verschärfung zur Sünde erklärt. Ökonomische Einwände? Sicherheitslage? Kommunale Kapazitäten? Werden in Tränen aufgelöst, nicht in Argumente. Gefühl ersetzt Urteil. Genau deshalb rührt es – und genau deshalb überzeugt es jene nicht, die täglich mit den Folgen arbeiten müssen.

Pädagogik, Chirurgie und andere Ersatzhandlungen

Das alles ist mehr als tagespolitische Hektik. Es ist pädagogische Staatskunst: die stetige Nacherziehung des Publikums durch Sprache. Auf der Mikroebene sieht das so aus, wie in einer Schulkonferenz, in der Erwachsene einem Kind und seinen wechselnden Selbstdeutungen folgen sollen – koste es die Wirklichkeit, was sie wolle. Wer zögert, wird in Mitleidspflicht genommen: Lehne nicht ab, sonst entfremdet sich das Kind. Das ist kein Gespräch; das ist emotionales Erpressungsmuster. Und es hat eine politische Entsprechung: Wer migrations-, bildungs-, sicherheits- oder identitätspolitische Einwände formuliert, bekommt kein Gegenargument, sondern ein Etikett. Am Ende bleibt die Formel „unsolidarisch“ – jene Disziplinierungsvokabel, mit der man schon Masken, Heizungen und Verkehr erzogen hat.

Es fügt sich, dass die Kulturindustrie den radikalisierten Körperkult zur Selbstoptimierung erklärt. Man kann an sich operieren lassen, bis die „Eyebrow Bones“ abgeschliffen sind und die Stirn Titan trägt – das Unbehagen bleibt, wenn sein Ursprung innerlich ist. Der Haken an der ewigen Verbesserung ist einfach: Irgendwann ist alles gemacht, doch nichts ist gut. Die Politik inszeniert ein ähnliches Verfahren: neue Worte, neue Kampagnen, neue Programme – und dieselben Ursachen. Chirurgie an Zeichen, nicht an Strukturen.

Der Osten als moralisches Feindbild

Auf der Metaebene schließlich sitzt der westdeutsche Kulturkritiker im Podcast und attestiert dem Osten einen Neonazi-Durchseuchungsgrad, der selbst die erste Klasse des ICE zur Rettungskapsel macht. Das ist keine Analyse, das ist Milieu-Mythologie. Sie dient nicht der Erkenntnis, sondern der Distinktion: Hier die Aufgeklärten mit dem richtigen Ticket, dort die Zumutungen der Provinz. Solche Anekdoten wirken – nicht, weil sie wahr sind, sondern weil sie ein Selbstbild stabilisieren. Und genau deshalb sind sie volkswirtschaftlich schädlich: Sie produzieren Abwertung, nicht Austausch.

All das hat eine gemeinsame Ursache: der Verlust des Wirklichkeitsbezugs. Man verwechselt die Bearbeitung von Symbolen mit der Lösung von Problemen, und man verwechselt moralische Empörung mit politischer Verantwortung. Die Realität – Zahlen, Kriminalitätsbilder, Migrationspfade, Integrationskosten, Unterrichtsinhalte, Angriffsbilanzen – wird nicht bestritten, sie wird umdeutet, bis sie harmlos klingt. So entsteht der eigentümliche Zustand, in dem das Land über seine Lage spricht, als wäre sie ein Film.

Politik beginnt mit der Anerkennung der Wirklichkeit

Politik beginnt dort, wo man die Wirklichkeit anerkennt – auch wenn sie dem eigenen Milieu wehtut. Wer Sicherheit will, muss Eingeständnisse machen. Wer Integration will, muss Zumutungen benennen. Wer Bildung will, muss Wahrheitsfähigkeit vor Gefühlsmanagement stellen. Wer Freiheit will, muss Pluralität ertragen – auch dann, wenn sie nicht Instagram-kompatibel ist.

Das bringt uns zurück zu Merz. Das Problem ist nicht, dass er „einen raushaut“. Das Problem ist, dass er nichts einlöst. Dadurch wird jeder Satz, der den Alltag vieler beschreibt, zur Munition für jene, die ihn sagen – und zur Werbung für jene, die ihn irgendwann tun könnten. Die Politik könnte diesen Kreislauf beenden, indem sie den Mut aufbringt, vor dem Satz zu klären, was sie nach dem Satz zu tun bereit ist – mit wem, gegen wen, und zu welchem Preis.

Bis dahin bleibt die Szene, wie sie ist: ein tragisches Schaugefecht, in dem zwei Milieus einander Wasser in die Augen spritzen, während das Land am Beckenrand zuschaut – und leise seine Stimmzettel sortiert. Realität schlägt Ritual. Früher oder später. Immer.



Kommentare

Anonym hat gesagt…
Es begann mit den Lügen, dass wir das schaffen würden und dass wir Platz hätten. Wir haben jetzt Islamistenaufmärsche, einen völlig ruinierten Wohnungsmarkt, ein abartig teures Versorgungssystem Integrationsunwilliger bei gleichzeitiger Rezession und obendrein das, was Merz gesagt und bei uns vor dem Sozialrathaus zugestochen hat: ein Stadtbild, vor dem die Einheimischen zunehmend fliehen.

Die einen ziehen weg, wenn zu viele Männergruppen einquartiert werden. Die anderen suchen etwas auf dem Land, wenn die Messerverbotszonen nicht ausreichen. Und die, die bleiben, weil sie sagen, das Stadtbild sei doch vielfältig und modern, stecken ihre Kinder trotzdem in die Privatschulen und steigen nach dem 5. geklauten Rad lieber in den Tesla, aber nicht ohne zu sagen, dass sie Elon Musk nicht mögen…

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