Verschleppt und verkauft: Christen wurden über Jahrhunderte von Muslimen versklavt

Die entschuldigenden Gesten für die Sklaverei sind im Westen schon zur Gewohnheit geworden und in vielen Fällen wohl auch angebracht. Aber ist bekannt, dass es millionenfach Europäer waren, die entführt und verskalvt wurden? 

So geschenen in Westirland in einer stürmischen Juninacht um zwei Uhr morgens. Als Murad Bey das Signal zum Angriff gab, stürmten seine Männer mit barbarischem Gebrüll und gezogenen Krummschwertern die kleine Ortschaft und ließen den Bewohnern keine Chance. Sie traten die Hüttentüren ein, zerrten die verängstigten Menschen aus ihren Betten und traten sie zum Strand hinunter. Aus den dort angelegten Beibooten konnten die Bewohner einen letzten Blick auf ihre mit Rauchsäulen überhangene Ortschaft werfen.

Nach einer stürmischen Überfahrt fanden sich die 22 Männer, 33 Frauen und 54 Kinder aus dem Örtchen Baltimore in der irischen Grafschaft Cork in Ketten und in einer fremden Welt wieder. Erst in Gruppen, dann einzeln wurden sie auf dem Bedesten von Algier, dem Marktplatz der nordafrikanischen Stadt, potenziellen Käufern vorgeführt. Muskeln, Zähne und Hände wurden geprüft, Kinder von ihren Eltern, Frauen von ihren Männern getrennt.

Schutzgelder an Piraten

Dann begann die lange Nacht der Sklaverei. Kräftige Männer verschwanden als Ruderer im Bauch von Galeeren. Junge Frauen wurden meistbietend als Konkubinen versteigert, und die Kinder mussten fortan schwere Arbeiten verrichten. Nur zwei der 109 Verschleppten sollten ihre Heimat wiedersehen.

Das Schicksal der Menschen von Baltimore war kein Einzelfall. Jahrhundertelang waren Europäer das Opfer orientalischer Sklavenhändler. Diese waren Piraten, nannten sich Korsaren und operierten massgeblich von den drei Barbareskenstaaten Algier, Tunis und Tripolis aus. Sie wurden von einem bey regiert, unterstellten sich jedoch 1529 dem Schutz des osmanischen Sultans in Konstantinopel.

Die Korsaren überfielen, heute würde man sagen: westliche, Handelsschiffe aus dem christlichen Abendland und verkauften die Besatzungen als Sklaven im Nahen Osten und im Osmanischen Reich. Sie waren Araber, Mauren und Morisken – aus dem von den Christen zurückeroberten Spanien nach Nordafrika geflüchtete Muslime. Viele Anführer allerdings waren europäische Matrosen. Diese Renegaten hatten ihrer Heimat den Rücken gekehrt und versuchten ihr Glück als Kriminelle im Nahen Osten. Einige konvertierten zum Islam und stiegen in hohe Ämter auf. Murad Bey etwa, der den Überfall auf Baltimore anführte, begann sein Leben als Jan Janszoon im niederländischen Haarlem.

Die Korsaren waren nicht nur eine Geisel der Schifffahrt, sie attackierten und brandschatzten auch an der Küste gelegene Orte in Spanien, Frankreich, Italien und Portugal. Sie suchten die Balearen ebenso heim wie Korsika, Sardinien, Sizilien und andere Mittelmeerinseln, und sie wagten sich sogar auf den Atlantik hinaus – bis nach England, Irland, in die Niederlande oder nach Island. Hier gab es weder Gold noch Reichtümer zu holen. Die einzig wertvolle Beute waren Menschen.

Bis nach Nordeuropa waren die Auswirkungen zu spüren. In dänischen Kirchen gab es neben dem Opferstock eine slavekasse. Hier wurde für das Lösegeld gesammelt, mit dem man entführte Dänen freikaufen wollte. Die Hansestadt Hamburg zahlte noch Ende des 18. Jahrhunderts Schutzgelder an die Piraten, um ihre Schiffe vor Überfällen zu schützen.

Versklavt wurden Menschen auch im Osten Europas. Soldaten des auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim herrschenden Khanats der Tataren unternahmen regelmässig Raubzüge auf russischem Territorium. Sie überfielen Dörfer und verschleppten arbeitsfähige Männer, junge Frauen und vor allem Kinder, um sie an ihre Glaubensgenossen auf der anderen Seite des Meers, im Osmanischen Reich, zu verkaufen.

Bis zum Beginn der Neuzeit gehörte die Gefahr, verschleppt, verkauft und versklavt zu werden, für Europäer zum fast alltäglichen Risiko – wenn man in der falschen Gegend wohnte oder den falschen Beruf ausübte. Doch dieses Kapitel der Geschichte wird ausgeblendet – mehr denn je, seitdem immer dreister von den heute lebenden Generationen verlangt wird, Abbitte zu leisten für die mit schwarzen Sklaven handelnden Vorfahren der fernen Vorzeit.

Man soll, kann und darf die Zahlen nicht gegeneinander aufrechnen. Aber europäische Sklaven waren keine Minderheit. Allein zwischen 1530 und 1680 wurden weit über eine Million Europäer geraubt und versklavt. Das ist zwar nur ein Zehntel der Zahl von Afrikanern, die in die Neue Welt verkauft wurden. Aber ihr stehen die fünfzehn Millionen Schwarzafrikaner gegenüber, die von Muslimen – Arabern und türkische Osmanen – ebenfalls ihrer Freiheit beraubt und wie Vieh gehandelt worden waren.

Sklave konnte man nicht nur als Europäer werden. Auch Bürger der jungen Vereinigten Staaten endeten auf Sklavenmärkten. Sie waren auf amerikanischen Schiffen im Mittelmeer unterwegs gewesen und den Korsaren in die Hände gefallen. Zeitweilig zahlte Washington Schutzgelder an die Barbareskenstaaten, die bis zu 20 Prozent der amerikanischen Staatseinnahmen ausmachten.

Die beiden späteren Präsidenten Thomas Jefferson und John Adams verhandelten persönlich in London mit einem Abgesandten des dey von Tripolis. Mit Algier schlossen die USA sogar einen Friedens- und Freundschaftsvertrag. Aber auch ihre ersten ausländischen Kriege führten die USA gegen die Sklavenstaaten in Nordafrika.

Einsatzgebiet der Ledernacken

Die Korsarengefahr gab überhaupt erst den Anstoss für den Aufbau einer eigenen Marine. Wie sehr die US Navy bis heute in dieser Geschichte verwurzelt ist, zeigen zwei Beispiele: Das Lied der US-Marineinfanterie beginnt mit der Zeile «Von den Hallen des Montezuma bis zur Küste Tripolis» und umreisst das globale Einsatzgebiet der legendären Ledernacken. Und noch heute bekommt jeder Marineinfanterist mit seinem Offizierspatent ein Mamelukenschwert, wie es einst der Leutnant Presley O’Bannon von einem Korsarenführer erhalten hatte.

Das Problem begann allerdings sehr viel früher, schon zu Ende des 12. Jahrhunderts, mit den Kreuzzügen im Heiligen Land. Im Jahr 1198 gründeten der Priester Johannes von Matha und der Eremit Felix von Valois den Mönchsorden der Trinitarier. Seine einzige Aufgabe: Geld sammeln und damit christliche Gefangene und Sklaven aus den Händen der Sarazenen freikaufen. Später widmete sich auch der Orden der Mercedarier dieser Aufgabe. Mönche beider Gemeinschaften hatten zudem ein Gelübde abgelegt, sich anstelle eines Sklaven selbst in Gefangenschaft zu begeben.

Einer der bekanntesten Sklaven, die von den Trinitariern freigekauft wurden, war Miguel de Cervantes, Spaniens grösster Dichter. Er war muslimischen Korsaren bei einer Seeschlacht in die Hände gefallen und hatte fünf Jahre in Gefangenschaft verbracht. Seine Erlebnisse verarbeitete er in vielen seiner Werken, darunter auch in der Erzählung eines Gefangenen im ersten Teil des «Don Quichotte».

Stockschläge auf die Fusssohlen

Cervantes straft auch all jene Apologeten Lügen, die die Knechtschaft in den Barbareskenstaaten zu relativieren versuchen, als sei sie weniger schlimm gewesen als das Schicksal der versklavten Schwarzen in Amerika. Doch einmal ganz abgesehen davon, dass jeder Verlust der Freiheit eine fürchterliche Strafe ist, wurden auch die Europäer von ihren muslimischen Besitzern zu schwerster körperlicher Arbeit gezwungen. Nachts wurden sie zu Dutzenden im sogenannten Bagnio eingeschlossen, einem engen, dunklen und drückend schwülen Verlies. Körperstrafen waren an der Tagesordnung. Die gefürchtetste war die Bastonade: Stockschläge auf die Fusssohlen.

Am schlimmsten traf es die Galeerensklaven. Wurden sie nicht freigekauft, waren sie verurteilt, bis zu ihrem Lebensende auf der Ruderbank angekettet zu sein. Essen, Schlafen, Notdurft – alles mussten sie an diesem Ort verrichten, weshalb man Galeeren früher roch als sah. Wurde ihr Schiff bei einem Kampf versenkt, gab es keine Rettung für sie. Allerdings bedeutete ihr Tod für ihre Besitzer einen wirtschaftlichen Verlust. Generell war die Sklaverei für die Ökonomie der Barbareskenstaaten fast genauso wichtig wie für jene der Plantagenbesitzer im amerikanischen Süden.

Wie präsent die Sklaverei in der europäischen Vorstellungswelt war, zeigen Literatur, bildende Kunst und Musik. Nicht nur Cervantes behandelte das Thema, es wird auch in Daniel Defoes «Robinson Crusoe» und Alexandre Dumas’ «Der Graf von Monte Christo» angesprochen. Jean-August-Dominique Ingres’ Gemälde «Die grosse Odaliske» zeigt idealisiert eine europäische Kurtisane in einem Harem. Wolfgang Amadeus Mozarts «Die Entführung aus dem Serail» spielt vermutlich in Algier, ebenso wie Gioachino Rossinis spätere Oper «Die Italienerin in Algier».

Als sie 1813 in Venedig uraufgeführt wurde, schwand die Korsarengefahr bereits. Die Piraten und ihre Auftraggeber hatten den modernen Flotten Grossbritanniens, Frankreichs, der Niederlande und der USA nichts entgegenzusetzen. Sogar die österreichische Marine unternahm eine Strafexpedition in Marokko. Der Spuk verschwand, als Frankreich 1830 Algerien und anschliessend die anderen Maghrebstaaten eroberte und kolonisierte.

Arbeiter in Saudi-Arabien

Drei Jahre später wurden mit der Slavery Abolition Act alle Sklaven im britischen Empire für frei erklärt und der Handel mit Menschen unter Strafe gestellt. Die islamische Welt brauchte deutlich länger, bis sie die menschenunwürdige Praxis verurteilte und abschaffte. Den Anfang machte die neue türkische Republik unter Mustafa Kemal Atatürk, die die Sklaverei 1924 verbot. Es folgte der Iran unter dem Reformer-Schah Reza Pahlavi im Jahr 1929. Saudi-Arabien rang sich erst 1962 zu diesem Schritt durch – und auch nur auf Druck Grossbritanniens.

Die gesamte islamische Welt verurteilte die Sklaverei erst im Jahr nach dem Mauerfall und dem Ende des Kommunismus – 1990. In diesem Jahr wurde die Kairoer Deklaration für Menschenrechte im Islam verabschiedet. Ein Land wie das westafrikanische Mauretanien scherte das gleichwohl wenig. Dort wurde die Sklaverei – zumindest offiziell – erst 2007 beendet.

In indirekter Form besteht sie gleichwohl fort. Denn die Bedingungen, unter denen ausländische Arbeiter in Saudi-Arabien und den Golfstaaten wie Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten gehalten und ausgebeutet werden, trägt alle Züge einer modernen Sklaverei.

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