Die Pokémons die ich rief, die werd ich nicht mehr los

Das Smartphone-Spiel Pokémon Go schickt seine Nutzer seit geraumer Zeit auch in Deutschland auf Safari. Gejagt wird nach Pokémons. In der realen Welt. Halt gemacht wird vor gar nichts.
So richtig darauf aufmerksam wurde ich erst kürzlich, als ein Kollege auf sein Smartphone starrend mein Büro ablief, als scanne er nach Erdstrahlen oder unterirdischen Wasserreservoirs. Tatsächlich war er auf der Suche nach Pokémons, japanischen "Monstern", die ungefähr so furchteinflößend sind, wie der Kuschelgecko meines Sohnemanns. Als er die Untersuchung des Raumes beendet, macht sich Enttäuschung auf seinem Gesicht breit. Aber zumindest sei mein Zimmer monsterfrei. Klasse, denke ich, eine Sorge weniger, auch wenn ich bis dahin überhaupt nicht wusste, dass eventuell Besuch da sein könnte.


Pokémon Spiele gibt es ja nun bereits seit Jahren, vornehmlich auf Nintendo Konsolen. Aber jetzt haben die digitalen Knuddelviecher es tatsächlich geschafft, die virtuelle Welt zu verlassen und fluten jetzt die physische. So ein bisschen wie bei "Ghostbusters". Und genau deren Part übernimmt jetzt der Spieler, dessen Handy dabei zum Jagdwerkzeug mutiert. "Ganz toll", waren meine ersten Gedanken, "als gäbe es nicht schon genug Lobotomisierte, die den ganzen Tag mit dem Zinken im Handy durch die Gegend laufen.“ Das war aber offensichtlich nur der Anfang. Millionen Bürger rennen plötzlich wie vom Smartphone geblitzdingst durch Flure, Straßen und Wälder und scannen jeden Quadratmeter nach den glubschäugigen Mönsterchen ab, die an ausgesuchten GPS-Positionen im Display auftauchen.


Aber man kann dem Ganzen natürlich auch etwas Positives abgewinnen. Als vor rund 20 Jahren das erste Pokémon Gameboy Spiel auf den Markt kam, gab es die vielfach geäußerte Sorge, Computerspieler könnten an Bewegungsarmut erkranken. Das hat sich nun in das genaue Gegenteil verkehrt. Ein vernachlässigtes Tamagochi hat ja seinerzeit auf der Höhe des Hypes bereits einen tragischen Autounfall verursacht - wie viele Pokémon Spieler zukünftig unversehens auf Straßen auftauchen, von Klippen fallen oder unbedingt das Löwengehege scannen müssen, mag man sich gar nicht ausdenken.


Analoge Grenzen lösen sich auf

Pokémon Gos Spielmechanik basiert auf Google Maps, das quasi die globale Bühne für die Monsterbuster bereit stellt. So harmlos das Spiel auch anmuten mag – es legt gekonnt eine virtuelle Spielumgebung über die physische Welt und schafft damit gleichzeitig spielerisch einfach etwas, an dem sich Virtual Reality Enthusiasten schon sehr lange die Zähne ausbeißen: Die fließende Grenze zwischen digitaler und realer Welt. Althergebrachte Grenzen, die unter anderem durch geltendes Recht und bestehende Eigentumsverhältnisse gesetzt werden, lösen sich auf. Nutzer der App durchstreifen Stadtverwaltungen, Badeanstalten, Hotels und private Gärten mit der Entschuldigung, das Rattfatz habe sich hierher geflüchtet und müsse dingfest gemacht werden. Andere werden aus Restaurants geworfen, weil sich heraus stellt, dass sie dort keinen Gyros Teller, sondern etwas völlig anderes suchen. Niantic, die mit Nintendo und Google verbundene Firma, scheint alles richtig gemacht zu haben: Die gratis erhältliche App wird in den USA inzwischen intensiver genutzt als der Kurznachrichtendienst Twitter.


An sogenannten Pokéstops müssen Spieler von Zeit zu Zeit ihre Vorräte aufstocken. Dabei kommt es immer wieder zu flashmobartigen Szenen mit Festivalcharakter. Leider eröffnet die Pokémon Euphorie auch Kriminellen ganz neue Bestätigungsfelder: Manche erwerben gegen Geld einen Köder, der nicht nur Pokémons sondern natürlich auch Spielsüchtige anlockt, die man dann um ihr Handy und die restlichen Wertgegenstände erleichtert.


Dass so manche verwöhnte Göre jetzt auf einmal ungeahnten Bewegungsdrang verspürt, weil sie "mit nur fünf Kilometern Lauf ein Ei ausbrüten kann" (so gelesen in einem Forum für Pokémon Go-ler), mag ja an sich ein willkommener Umstand sein. Dass das Handy jetzt vollends zur 24/7 Erkenntnislupe für die vermeintliche Realität wird, eher nicht. Oder vielleicht doch? Am Beginn des ersten Teils von Goethes Faust, in der Szene »Nacht«, erhebt Faust in einem Selbstgespräch Klage über die Eingeschränktheit seines Wissens: "Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält". 200 Jahre später werden sich viele bald sicher sein - es ist ein Pokémon.

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